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Heute werde ich darüber sprechen, was Geduld und Vergebung sind. Und darüber, wie sich verschiedene Kulturen, verschiedene Religionen und verschiedene Philosophien in ihrer Sichtweise darauf unterscheiden. Im Allgemeinen wird Vergebung als eine gute Qualität angesehen, und dass es wichtig ist, zu vergeben. Nur diejenigen, die eine tiefe Qualität haben, können vergeben, die meisten Leute aber nicht. Selbst wenn sie sagen, dass sie vergeben, und selbst wenn es so aussieht, als würden sie vergeben, können sie in der Tiefe ihres Herzens nicht wirklich vergeben. Das ist das Normale, das Internationale und Allgemeingültige.
Gemäß der tibetischen Kultur und dem tibetischen Buddhismus, gibt es aber nicht wirklich ein allgemeines, jedem verständliches Wort für Vergebung. Tibeter*innen kennen dafür nur verschiedene Kategorien von Geduld. Sie haben nicht einmal verschiedene Worte für Geduld, Toleranz und Vergebung. Sie sprechen nur über verschiedene Arten von Geduld. Auf Englisch hingegen gibt es einen sehr klaren Begriff. Dort, wo das Christentum vorherrscht, ist Vergebung in die Kultur eingebettet, und sie wird als Ideal hochgehalten, als etwas, von dem alle der Meinung sind, dass es etwas Wünschenswertes ist. Jede*r, die/der nicht vergeben kann, wird schnell sehr negativ beurteilt. Aber in anderen Kulturen sind die Menschen nicht so schnell darin, jene Menschen, die nicht vergeben können, zu verurteilen. In einigen Kulturen ist es sogar so, dass Menschen, die Rache oder Kampf suchen, als mit guten Qualitäten versehen angesehen werden.
Das Wichtigste, über das ich heute sprechen möchte, ist die Frage: Ist Vergebung für alle immer gut, unabhängig von den Bedingungen? Das werden wir heute genauer unter die Lupe nehmen. Ich stimme zu, dass es im Allgemeinen eine wirklich gute Qualität ist, wenn man vergeben kann. Aber es stellt sich die Frage, ob es in jedem Fall, zu jeder Zeit, in jeder Situation und unter allen Umständen so ist, dass wir vergeben müssen. Wenn wir über Vergebung sprechen, bedeutet das ja, dass die Handlungen der anderen Person schlecht waren, dass sie etwas Falsches gemacht hat. Vergebung impliziert dann, dass es keine Reaktion darauf gibt, dass jemand etwas Falsches macht. Sollte das immer, zu jeder Zeit und in jeder Situation so sein? Die Antwort ist nein. Wir müssen darüber nachdenken, warum diese Person etwas Schlechtes tut und wie schlecht es ist, warum wir vergeben sollen und was Vergebung nützt. All das müssen wir berücksichtigen.
Zunächst mal gibt es Abstufungen, wenn Menschen anderen Menschen schlechte Dinge antun. Es kann etwas Schlechtes, Mittelschlechtes oder extrem Schlechtes sein. Normale, gewöhnliche Menschen können nicht alle diese Abstufungen vergeben. Sie haben immer eine Reaktion, Wut und Hass. Aber wenn wir gute Qualitäten kultiviert haben – Rücksichtnahme, Weitblick, ein wenig Weisheit und sogar etwas Mitgefühl – dann können wir erkennen, ob es wirklich notwendig ist, zu reagieren oder nicht. Manchmal sind die schlechten Handlungen von Menschen nicht wirklich schädlich. Was man für gewöhnlich für schädlich hält, ist nicht immer wirklich schädlich, wenn man es auf einer tieferen Ebene betrachtet. Unter gewissen Umständen ist es sehr leicht und einfach zu vergeben, und in diesen Fällen sollte das auch jede*r tun. Für manche Menschen ist dies so einfach, dass es sich nicht einmal wirklich um Vergebung handelt. Sondern die Leute ignorieren die Situation einfach, weil es ihnen einfach egal ist. In solchen Fällen sollte jede*r vergeben. Jede*r kann das schaffen.
Es geht hier also um Situationen, die ohne tiefere Betrachtung schlecht erscheinen, es aber nicht wirklich sind. Beispielsweise wenn jemand sagt, dass du hässlich bist und nicht gut aussiehst. Da können die Leute selbst sehen, ob das stimmt oder nicht. Ob du wirklich schlecht aussiehst oder nicht. Ob du wirklich hässlich bist oder nicht. Die Leute können durch ihre fünf Sinne sehr leicht erkennen, ob jemand etwas als viel schlechter darstellt oder beurteilt als es tatsächlich ist. Solche Dinge sind mit ein wenig Weisheit und ein wenig Weitblick sehr leicht zu vergeben. Wenn du darauf nicht reagierst, können Dritte sehr leicht erkennen, dass diese Person falsch liegt und du recht hast. Und dass du so friedvoll und weise bist, wenn du nicht reagierst. Solche Dinge also sind recht leicht zu vergeben und ohne Frage sollte das auch jede*r tun.
Es gibt jedoch auch schlechte Taten, die mittelschädlich sind. Sie sind vorübergehend schädlich, aber langfristig nicht. Langfristig könnten sie entweder nützlich oder ein wenig schädlich sein oder aber sich einfach auflösen. Das ist nicht vorhersehbar. Im Moment scheint die Situation zumindest vorübergehend ein bisschen schädlich zu sein. Es ist etwas schwieriger, dies zu vergeben, aber wenn du sorgfältig darüber nachdenkst, ist es in den meisten solchen Fällen gut zu vergeben. Und wenn du es schaffst zu vergeben, bedeutet das, dass du mutig bist. Wer vergeben kann, ist gütig, und Vergeben ist auch ein Zeichen von Mut. Wenn du vergibst, bedeutet das nicht nur, dass du gütig bist, nicht nur, dass du geduldig bist, sondern auch, dass du mutig bist. Und Vergeben ist auch ein Zeichen von Weisheit.
Und dann gibt es sehr schlechte Handlungen mit sehr schädlichen Folgen. Folgen, die nicht nur vorübergehend sondern auch langfristig schädlich sind. Für diese Art von Handlungen ist es nicht unbedingt am besten, immer, zu jeder Zeit und unter allen Umständen zu vergeben. Hier lässt sich das nicht so einfach und allgemeingültig beantworten. Hier müssen die Umstände sehr sorgfältig betrachtet werden.
Wenn ich sage, dass es in solchen Fällen nicht unbedingt das Beste ist zu vergeben, spreche ich über die Handlungsebene, über die Reaktionen. Auf der geistigen Ebene aber, ist es immer gut, ein gewisses Maß an Vergebung zu haben. Sodass man nicht in Groll, Wut und Hass verhaftet bleibt. Das ist also immer gut. Aber auf der Handlungsebene muss man nicht immer notwendigerweise vergeben. Warum? Denn wenn du alles vergibst, unabhängig vom Schweregrad der Handlung, unabhängig von den Folgen der Handlung, wenn du also ungeachtet der Umstände nie etwas unternimmst und keine Reaktion zeigst, dann kann das manchmal gut sein, es kann die Leute aber auch schlechter machen. Das kann dann dazu führen, dass sie immer schlimmere und schlimmere Dinge tun. Warum ist das so? Weil das eine schlechte Gewohnheit verstärken kann bis zu dem Grad, dass die Leute denken, dass sie jedem alles antun können. Und das ist ein Fehler. Denn wenn sie jede*n so behandeln, dann schaden sie nicht nur vorübergehend vielen Menschen sondern auf lange Sicht schaden sie damit auch sich selbst total. Aus diesem Grund ist es gütig, ihre Handlungen in Frage zu stellen, sodass sie draus etwas lernen können. Ihnen zu ermöglichen, daraus etwas zu lernen, ist sehr, sehr wichtig, wenn deine Motivation dafür die richtige ist. Deine Motivation muss auf Liebe und Güte beruhen. Das bedeutet aber nicht, dass dein Verhalten sich wie ein freundlicher Kuss anfühlt. Es kann sein, dass du etwas unternimmst, das wie eine sehr grobe Maßnahme aussieht, dass du etwas sehr Herausforderndes tust, das allerdings auf Güte und Mitgefühl beruht. Das ist möglich.
Das bedeutet, dass du, wenn jemand etwas Schlechtes tut, darüber nachdenken musst, wie schlecht diese Handlung ist. Was schädlich die Folgen für dich selbst, für andere und für die Person, die diese Handlung begeht, sind. Und dann musst du entsprechend reagieren oder nicht reagieren. Du musst etwas tun, was der gegebenen Situation entspricht. Wenn du das tust, dann erziehst du damit dich selbst. Und du erziehst damit die andere Person, die die schlechte Angewohnheit hat, andere sehr schlecht zu behandeln, oder die vielleicht eine sehr egoistische Einstellung und Motivation hat. Oder aber vielleicht liegt den Handlungen dieser Person keine große Motivation zu Grunde, sondern sie begeht einfach in diesem Augenblick eine schlechte Handlung.
Du wägst also alles ab, was gerade passiert, und wendest dann etwas an, das den spezifischen Umständen entspricht. Aber natürlich muss deine Motivation immer auf Liebe, Mitgefühl und Güte beruhen. Das bedeutet, dass – wenn die Handlung des Körpers und die Handlung der Sprache nicht gütig wirken – das nicht bedeuten muss, dass die Motivation dahinter nicht gütig und liebevoll ist. Wir alle müssen uns das merken, und wir müssen achtsam sein. Und das Wichtigste ist, dass wir uns auf unseren Geist und unsere Motivation konzentrieren. Basiert unsere Motivation auf Liebe, Mitgefühl und Güte? Ja oder Nein? Dies sollte immer unser Fokus sein. Der Fokus sollte nicht zu 100% auf die Handlungen des Körpers und der Sprache gelegt werden – das betrifft sowohl den/die Empfänger*in als auch die/den Ausführende*n der Handlung. Wenn man die Wahl hat, ist auf körperlicher Ebene gütiges Handeln sowie gütige Sprache natürlich das Beste, aber manchmal ist das nicht geeignet. Manchmal ist das keine Option, da diese Person auf diese Dinge nicht eingeht. Wenn du aber raue, zornige, eindrucksvolle Handlungen setzt, reagiert die Person dann vielleicht.
Aus diesem Grund ist es gemäß Vajrayana Tantra so, dass, wenn jemand ihr/sein heiliges Samaya – also die heilige Verpflichtung – gebrochen hat (was wir unter dem Begriff Tamyam verstehen), wir zu dieser Person keinen Kontakt mehr haben sollen. Die Leute verstehen das oft falsch und denken, dass wir dieser Person gegenüber nicht versöhnlich sind. Das ist eine riesige Fehleinschätzung. Warum ist das eine riesige Fehleinschätzung? Weil Tantrayana die tiefgründigste Lehre, Praxis und Verpflichtung ist. Deshalb haben die heiligen Verpflichtungen einen unglaublich kraftvollen Nutzen. Wenn man aber das Gegenteil tut, haben sie starke schädliche Folgen.
Wenn also jemand bewusst und mit Respektlosigkeit sein/ihr Samaya-Gelübde bricht, wenn jemand den heiligen Lehrer kritisiert, wenn jemand die heilige Sangha-Gemeinschaft kritisiert, wenn jemand die heiligen Lehren des kostbaren Dharma kritisiert und wir dann denken, dass wir all das vergeben müssen und wir deshalb dieser Person gegenüber freundlich bleiben, dann fügt das beiden Seiten Schaden zu.
Warum ist das so? Weil eine Seite heilig und die andere Seite das Gegenteil von heilig ist. Wenn du dann trotzdem weiterhin verbunden bleibst, dann hat das einen schlechten Einfluss auf deine Heiligkeit, die heiligen Lehren und Verpflichtungen. Wenn ich hier über schlechten Einfluss spreche, meine ich damit nicht auf offensichtlicher Ebene. Auch das ist möglich, aber ich spreche von einem schlechten Einfluss auf subtiler Ebene. Etwas, das wir mit unseren Augen und unserem Geist nicht sehen können, das aber dennoch da ist. Das ist wirklich, wirklich möglich. Denn im ganzen Universum, bei allem Materiellen, passiert auf einer subtilen Ebene vieles, über das wir nichts wissen – das sagt auch die Wissenschaft. Da wirken viele Energien und Kräfte; da passiert die ganze Zeit über sehr viel. Wir können es nicht sehen, und wir können es nicht fühlen, aber es geschieht etwas. Auf ähnliche Weise hat es einen sehr schlechten Einfluss, wenn du eine heilige Verpflichtung eingehst und dich in einer heiligen Praxis übst, dich dann aber mit einem Menschen umgibst, der genau das Gegenteil von heilig ist. Deine Praxis, deine spirituelle Entwicklung und deine Verwirklichungen werden dadurch verzögert. Das macht es aber auch für die andere Person schädlicher, da es für ihr Karma schlechter ist. Deshalb ist es besser, dieser Person auf körperlicher Ebene fern zu bleiben – Körper, Sprache und Gedanken mit dieser Person nicht zu teilen. Aber du kannst immer noch Mitgefühl, Liebe und Güte in deinem Geist haben.
Das bedeutet, dass du diese Person nicht für immer aufgibst, sondern dass du nur vorübergehend die Verbindung trennst. Das ist kein Widerspruch. Denn du gibst nicht einmal bei einem einzigen fühlenden Wesen deine Motivation auf, es zur Erleuchtung und zur Buddhaschaft zu führen. Im Vajrayana Tantra und auch im Mahayana gibst du kein einziges fühlendes Wesen auf. Gleichzeitig musst du aber die Verbindung vorübergehend trennen. Besonders in der Vajrayana-Praxis muss die Verbindung zu einer Person, die absichtlich ihre Samaya-Gelübde bricht, ohne zu versuchen, sie zu reparieren, getrennt werden. Wenn du die Verbindung nicht trennst, brichst du deine eigenen Gelübde, deine eigenen heiligen Verpflichtungen. Dann wirst du dieser Person ähnlich, die das Gegenteil einer heiligen Person ist. Wenn du also diese Heiligkeit nicht verlieren willst, musst du dich von schlechtem Körper, schlechter Sprache und schlechten Gedanken distanzieren. Du kannst viele Lektionen erteilen, herausfordernde Lektionen, wenn dies der anderen Person hilft, den Schaden zu erkennen, den sie verursacht hat. Hoffentlich erkennt die Person dann die Fehler, die sie gemacht hat, und bereut diese. An diesem Punkt ist die Person bereit zu beginnen. Sie muss durch ihre Handlungen gegenüber der Sangha zeigen, dass sie diese Erkenntnis hat, und sie muss dieses unglaublich tiefe Bedauern bekräftigen. Wenn die Person das tut, dann können die Sangha und der heilige Lehrer in Verhandlungen mit der Person einsteigen. Erst an diesem Punkt – wenn die Person freiwillig alles für einen Reinigungsprozess unternommen hat – kann es zu einer neuerlichen Verbindung mit der heiligen Sangha kommen.
Aber bis dahin (wo die Person Bedauern ausdrückt und sich mit der Reinigung auseinandersetzt) muss die Verbindung getrennt werden. Wenn diese Person in diesem Leben nicht bereit dazu ist, Samaya zu reparieren, muss die Verbindung getrennt bleiben bis sie stirbt. Aber dann betest du immer dafür, dass die Person im nächsten oder ansonsten in einem der darauffolgenden Leben bereit dazu ist. Du musst dafür beten. Und die ganze Sangha auch. Alle in der Sangha, die denselben Lehrer teilten, die dieselbe Übertragungslinie teilten, die dieselbe Einweihung teilten, die dieselben heiligen Texte und Anderes teilten, haben für immer eine Verantwortung. Diese Verantwortung und diese Verpflichtung sind für immer. Aber im beschriebenen Fall ist eine Verbindung vorübergehend für beide Seiten nicht gut.
Aber die Leute verstehen das oft nicht, weil sie sehr simple Urteile fällen. Sie beurteilen etwas, das eigentlich sehr kompliziert ist, auf sehr simple Weise. Sie haben einen simplen Zugang, um sehr tiefgründige Dinge zu beurteilen. Und deshalb verstehen die Leute das nicht.
Je tiefgründiger der Dharma, desto mehr Komplikationen für normale Menschen. Für heilige Menschen bedeutet tiefgründiger jedoch, dass der Dharma immer mehr Sinn macht. Aber für nicht-heilige, gewöhnliche Menschen bedeutet tiefgründiger komplizierter. Wir müssen jede*n verstehen. Und dann müssen wir sehen, welche Art von Handlung wir vergeben sollen und welche Art von Handlung wir nicht vergeben sollen. Damit meine ich auf der offenkundigen Ebene von Körper und Sprache. Im Geist vergeben wir natürlich immer. Aber mit den Handlungen von Körper und Sprache kann man es vielleicht nicht. Einfach ausgedrückt, vergibst du im Geist immer. Das bedeutet, dass du immer gütig und mitfühlend bist. Dass dir das spirituelle Wohlbefinden anderer wirklich wichtig ist. Aber was die zwischenmenschliche Ebene von Handlungen auf der Ebene von Körper und Sprache angeht, musst du auf Distanz bleiben (wenn Samaya-Gelübde gebrochen werden). Du kannst nicht weitermachen wie davor. Du kannst diese Person nicht gleich behandeln wie heilige Leute, wie die wirklichen Sangha-Mitglieder. Du musst Distanz halten.
Wenn du über all diese Dinge sorgfältig nachdenkst, verstehst du sie auf einer tieferen Ebene. Es ist nicht einfach eine Frage von vergeben oder nicht-vergeben, von schwarz oder weiß. Unter all den von mir beschriebenen Umständen musst du sehr genau nachdenken, versuchen jede*n zu verstehen, und dann ist das sehr nützlich.